Zwei Personen die auf einer Holzterrasse in einer Holzschaukel sitzen
c Marlene Rahmann

Was hat Barrierefreiheit mit Tourismus zu tun, Gabriel Toggenburg?

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Ein Menschenrechtsexperte baut komplett barrierefreie Ferienwohnungen in den Pferdestall seines Großvaters, weil es für den alten Herrn mit Stock, für Eltern mit Kinderwagen, für die Sportlerin mit Fußverletzung und für seinen eigenen Bruder im Rollstuhl immer noch schwer ist, einen Urlaubsort ohne Limitation zu finden. Jetzt möchte Gabriel N. Toggenburg sein Wissen über Barrierefreiheit im Tourismus weitergeben.

Petra Percher

Gabriel N. Toggenburg hat mit Tourismus nichts zu tun. Eigentlich. Erst seit kurzem betreibt der Jurist und Menschenrechtsexperte in Maria Himmelfahrt am Ritten in Südtirol mit seiner Familie ein touristisches Angebot der besonderen Art: das „Haus Himmelfahrt“. Mit dem Hideaway für Menschen mit besonderen Bedürfnissen möchte er Changemaker sein. Und zeigen, dass Barrierefreiheit ohne Spitalsoptik auskommt und sogar für alle gut ist. Im Gespräch erklärt Gabriel, warum Barrierefreiheit die Nachhaltigkeit von morgen darstellt, und er lässt uns in sein Haus Himmelfahrt blicken, das – wie er unterstreicht – mehr ist als ein Haus. Ein Haus voller Ideen.

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privat

Was hat Barrierefreiheit eigentlich mit Tourismus zu tun?

Die Frage ist interessant, denn sie zeigt, dass wir Barrierefreiheit gerne irgendwo lokalisieren und dort festzurren. Am besten woanders. Etwa in Altenheimen. Eigentlich gehört Barrierefreiheit aber in die Mitte unseres Lebens und unserer Gesellschaften. Wir brauchen überall mehr Barrierefreiheit. Natürlich auch im Tourismus. Fast 90 Millionen Menschen in der EU leben mit irgendeiner Form von Behinderung. Ein Fünftel der EU-Bevölkerung ist 65 Jahre oder älter. Das sind alles potenzielle Touristen. Mir scheint, der Hausverstand sollte jedem Touristiker sagen, dass Barrierefreiheit eine Investition wert ist.

Aber was ist konkret mit Barrierefreiheit gemeint?

Stolperfreiheit, breite Treppen, leicht bedienbare Türgriffe, Einhebelmischer am Waschbecken, schwellenlose Türen, befahrbare Duschen, Haltestangen, Sitzgelegenheit in der Dusche, Verwendung von Brailleschrift, kontrastreiche Beschilderung, Alarmschnüre für mehr Sicherheit, akustische Warnsignale, eine Sauna in die man auch mit dem Rollstuhl kommt, Steckdosen und Lichtschalter in richtiger Platzierung. All dies sind Dinge, die nicht für eine segregierte Randgruppe von Interesse sind, sondern für Alle. Solche Maßnahmen ermöglichen es, ein Umfeld zu schaffen, in dem sich alle Gäste möglichst ohne fremde Hilfe bewegen können. Die alte Dame mit Stock ebenso wie die junge Frau mit Kinderwagen. Letztlich geht es auch um die Würde des Menschen wie sie in der EU Grundrechtecharter oder im ersten Artikel des deutschen Grundgesetzes festgehalten ist.

Du bist Jurist und Menschenrechtsexperte. Unterwegs auf Universitäten und in EU-Gremien. Was hat dich dazu bewogen, selbst mit einem Hideaway aktiv zu werden?

Mein Bruder ist Rollstuhlnutzer. Vor einigen Wochen wollten wir auf dem Weg nach Südtirol in das vordergründig moderne McDonalds Restaurant in Schönberg. Statt einer Rampe oder eines Aufzuges gab es nur einen Treppenlift, der einen der Wand entlang mehr schlecht als recht nach oben hievt. Um dieses Konstrukt zu bedienen, muss man aber zuerst die Geschäftsführung kontaktieren. Nach 13 (ja, dreizehn!) Minuten Wartezeit kam jemand, um das abenteuerliche Gerät mit einem speziellen Schlüssel – und unter Beobachtung einer Menge an Schaulustigen – endlich zu bedienen. Uns war diese Erfahrung sehr unangenehm. Wie gerne wäre mein Bruder einfach entlang einer Auffahrt selbsttätig in das Restaurant gefahren. Ich denke, das Beispiel zeigt, dass Touristiker, Bauherren und Architektinnen mit ein bisschen mehr Empathie der menschlichen Würde einen guten Dienst erweisen können.

Dann ist das Haus Himmelfahrt entstanden. Erzähle uns davon! Was ist das Haus Himmelfahrt?

Ich fürchte, für uns gibt es noch keine passende Gattungsbezeichnung. Das Haus Himmelfahrt ist ein uraltes Gebäude, das früher die Pferde meines Großvaters beherbergte. Nun finden sich bei uns Naturliebhaber und nachhaltigkeitsaffine Individualisten ein. Wir bieten kleine, bescheidene Ferienwohnungen auf 1200 Höhenmeter in einer herrlichen Natur. Allerdings mit exklusiver Nutzung von Privatpark, Bibliothek, Wellnesszone, Erholungsterrasse und Maleratelier unseres Privatanwesens. Es ist weder Luxushotel, noch 08/15 Ferienwohnung. Wir haben private Einfachheit gepaart mit nachhaltigkeitsverträglichem Luxus und konsequenter Barrierefreiheit. Und bei diesem genetischen Versuch kam dann das Haus Himmelfahrt heraus.

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Frau im Rollstuhl, die einen Geschirrspüler einräumt
c Marlene Rahmann
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Ansicht Innenraum Haus Himmelfahrt Assunta
c Marlene Rahmann

Führe uns durch das Haus Himmelfahrt – wie sorgt ihr für Barrierefreiheit?

Wir haben einstweilen 36 Maßnahmen zu mehr Barrierefreiheit getroffen. (Alle Maßnahmen kannst du hier in seinem Vademecum nachlesen.) Luft nach oben ist immer noch! Immerhin sind die handgezimmerten Betten und Küchen rollstuhltauglich. Ebenso die Badezimmer. Natürlich gibt es einen Aufzug. Und unsere Wellnesszone, die Parkplätze, die Wege im Privatpark haben wir mit Blick auf den Rollstuhlfahrer oder die Rollatornutzerin entworfen. Es gibt Pflegebetten, damit Familien mit Pflegefällen Urlaub machen können. Letztlich geht es um den omnipräsenten Versuch, mehr Empathie in die Baulichkeit und die Einrichtung fließen zu lassen. Und was mir ein besonderes Anliegen war: ich wollte zeigen, dass es nicht wahr ist, dass Barrierefreiheit einer Beleidigung aller Ästhetik gleichkommen muss. Heutzutage muss ein barrierefreies Badezimmer nicht mehr aussehen wie eine Spitalnasszelle eines Hochsicherheitsgefängnisses. Ganz im Gegenteil! Ich denke, unser Haus Himmelfahrt versprüht eine herrliche Ästhetik und Gemütlichkeit. Auch dank der Tapeten meiner Schwester Larissa.

Was hat Barrierefreiheit denn mit Nachhaltigkeit zu tun?

Erstaunlich viel. Das wird nur oft übersehen. Würden wir so viel von Barrierefreiheit reden wie von Nachhaltigkeit, dann wären wir als Gesellschaft schon weiter. Schauen Sie sich nur die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen an. Die Situation von Menschen mit Behinderungen findet in einigen der 169 Unterzielen und der 232 Indikatoren Berücksichtigung. Barrierefreiheit ist ein wichtiger Aspekt sozialer Nachhaltigkeit. Die Agenda 2030 spricht explizit von der proaktiven Förderung von „verwundbaren“ Menschen. Ein Hotel, das furchtbar stolz ist auf seinen Bioteich, aber Menschen mit Behinderungen die Türe weist, hat wenig von den 17 Nachhaltigkeitszielen verstanden.

Aber müssen Hotels barrierefrei sein?

Bauliche Barrierefreiheit im Tourismus ist europaweit noch nicht vereinheitlicht und das Baurecht ist sogar innerhalb der EU-Mitgliedstaaten unterschiedlich geregelt. Das gilt auch für Deutschland und Österreich wo das Baurecht Großteils Landessache ist. Insofern ist es ratsam, lokale Experten zu konsultieren. Wir haben uns an die Tiroler Gerichtssachverständige Kornelia Grundmann gewandt. Sie betreibt eine Beratungsagentur für Barrierefreiheit und ist selbst Rollstuhlnutzerin. Oft gibt es Ausnahmen von der Pflicht zur Barrierefreiheit. Zum Beispiel, wenn sie nur mit einem unverhältnismäßigen Mehraufwand herzustellen ist. Dennoch riskiert man, wegen Diskriminierung verklagt zu werden. Aber das ist nicht der Punkt. Wenn sich Tourismusanbieter der Barrierefreiheit aus juristischen Gründen beugen, dann sind sie am falschen Weg. Barrierefreiheit ist vielmehr ein Weg, Tourismus neu zu begreifen und Nachhaltigkeit sinnvoll auszulegen.

Wie interpretiert das Haus Himmelfahrt Nachhaltigkeit?

Ach, da sind wir bescheiden. Wir sind meilenweit von Klimaneutralität entfernt. Aber wir haben ein hauseigenes Nachhaltigkeitskonzept und sind 360 Grad SDG-orientiert. Das können wir garantieren. Alles andere wäre Grünwäscherei. Wir versuchen gute Ideen im Haus zu sammeln. So sind unsere herrlichen Biomatratzen von einem lokalen Sozialprojekt mit biodynamischer Bewirtschaftung. Die Bettwäsche kommt von Noca, die sich als die erste klimapositive Bettwäsche bezeichnet. Unsere Handtücher sind von der Firma Kushel, die das erste Handtuch entwickelt hat, das aus weichem Buchenholz und regenbewässerter Bio-Baumwolle besteht. Unser Küchengeschirr wurde von Menschen mit Behinderungen aus nachhaltigem Material hergestellt. Und so sammeln wir eben Ideen, um dem Gedanken der Nachhaltigkeit und der Barrierefreiheit weiterzubringen.

Was sind die nächsten Pläne?

Oh, das Haus Himmelfahrt hält mich noch lange beschäftigt. Wir haben uns im sogenannten Tourismus Pathway der EU verpflichtet, zu prüfen, ob wir es schaffen, das EU-Ökolabel zu bekommen. Das steht ja nicht nur für Produkte, sondern auch für touristische Betriebe offen. Da werde ich mich als nächstes dransetzen.

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